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Raus aus dem stillen Kämmerlein

Selbstreflexion in der Angebotsleiste - wieso das? Natürlich verkaufe ich Ihnen keine Selbstreflexion. Nachdenken müssen Sie selbst. Und ich meine das ernst mit dem Müssen. Ich habe nichts »im Angebot«, das Sie ohne Ihre Eigenleistung bekommen können. 

Aber was ist das eigentlich, Selbstreflexion? Kritische Selbstbespiegelung in einsamen Momenten? Etwas Privates also? Oder etwas, das entweder im Luxus- oder im Esoterik-Verdacht steht und wofür man normalerweise keine Zeit hat? 

Ich schlage Ihnen eine Alternative vor: Selbstreflexion als öffentliche Handlung. Das ist nicht so exhibitionistisch, wie es klingen mag. 

 

Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Ich bekomme mein Zeitmanagement nicht so gut hin, wie ich möchte oder wie es nötig wäre, um endlich meine Pendenzen abzubauen, anstatt sie zu vergrößern. Nun kann ich zwar in mich gehen, mir überlegen, was schief läuft (ich lasse mich ablenken) und mir vornehmen, irgendetwas anders zu machen (das WLAN zwischendurch auszuschalten). Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ich mir das vorhalte, was ich mir schon hundertmal vorgehalten habe, und mir das vornehme, was ich mir schon oft vorgenommen habe, ist beträchtlich. So dient Selbstreflexion - etwas salopp gesagt - vor allem der Selbstvergewisserung. Ich erkenne mich selbst wieder, und das hat natürlich etwas Beruhigendes. Aber es ist nicht die beste Ausgangslage für Veränderung.

 

Was also ist die Alternative?

Selbstreflexion erfordert - das ist nichts Neues - Distanz zu sich selbst. Das heisst, ich muss mir selbst als etwas Äußerlichem, als einem Gegenstand in einer bestimmten Form gegenübertreten.

Diese Form ist nicht einfach gegeben. Ich muss sie erzeugen. Also muss ich handeln - genau das hatte ich ja oben behauptet. Natürlich kann das auch das Formulieren einer Selbstbeschreibung, also sprachliches Handeln sein. 

 

Schauen wir uns nochmals das Beispiel an:

Ich beschreibe mich also selbst: »Ich lasse mich ablenken«. Als Form meines Selbstverständnisses, die ich mir gegenüberstelle, ist diese Beschreibung vage. Ich muss sie präzisieren, damit ich mehr als neblige Umrisse erkenne. Dafür muss ich mir aber vielleicht bewusster beim Arbeiten »zusehen«, als ich das bisher gemacht habe. Und ich muss - wie bei einer empirischen Studie - die Bedingungen variieren und »probehandeln«. Welche Ablenkungen genau? In welchen Kontexten? Zu welchen Tageszeiten? Bei welcher Art von Arbeit? In welchem Rhythmus?...

Wer ich bin und was ich bewirke, zeigt sich nicht einfach beim tiefen Blick in den Spiegel. Damit es sich zeigt, muss ich etwas tun.

 

Und warum öffentlich?

Erstens werde ich im Gespräch mit anderen realisieren, dass sich ablenken zu lassen eine ziemlich verbreitete Untugend ist. Das dient nicht nur dazu, mich mit meiner Ineffizienz weniger peinlich berührt auseinanderzusetzen, sondern ist vor allem eine Gelegenheit, mein Spektrum an Gesichtspunkten für die Beschreibung zu erweitern.

In meinem Beispiel könnte mir eine Freundin sagen: »Dir vorzunehmen, die Mails nicht zu checken, bringt wahrscheinlich nichts: Du denkst dann doch an die Mails und nicht an das, was du machen musst. Ich würde andere Arbeitstechniken für deine Pendenzen ausprobieren: Zeit stoppen funktioniert bei mir gut. 

Zweitens ist mein Selbstverständnis - auch das unproblematische - nicht unveränderlich. Die Begriffe, Bilder Emotionen und Handlungen, die es ausmachen, sind verortet: in einem familiären Kontext, einem Arbeitsumfeld, einem Sprachraum, einem historischen Moment etc. Diese Verortung ist auch eine Adressierung - selbst dann, wenn sie unausgesprochen ist. Die Verortung und die damit einhergehende Adressierung zu verändern ist daher eine produktive Ausgangslage für die Veränderung der Selbstbeschreibung und mit ihr des Selbstverständnisses.

Ich werde also mein mangelhaftes Zeitmanagement anders präzisieren, je nachdem, ob ich mit meiner Freundin spreche, einen Tagebucheintrag mache, mich in einer Lernpartnerschaft oder in einem digitalen Forum austausche, die Frage meines Coachs beantworte oder einen Blogeintrag zum Thema schreibe.

Diese Unterschiede sind wesentlich für die Präzisierung und damit für die Veränderung.

 

Und weshalb ist das nicht exhibitionistisch? Weil nicht nur die Beschreibung meiner Gefühle mir Aufschluss über mich selbst geben kann, sondern auch die »technische« Analyse meines Verhaltens. Die »Oberflächen« sind für mein Selbstverständnis so relevant wie die »Tiefenschichten«. Ich kann je nach Öffentlichkeit entscheiden, wo mein Sprechen über mich ansetzt.

Vielleicht setze ich mich nur einmal mit jemand anderem in den gleichen Raum zum Arbeiten und schaue, wie ich vorankomme mit meinen Pendenzen.

 

Selbstreflexion ist also sinnvollerweise keine private Nabelschau, sondern das Experimentieren mit Selbstbeschreibungen oder Verhaltensformen. Die Wirksamkeit dieses Experiments ist unter anderem abhängig von der Differenziertheit der Versuchsanordnungen und von  der Resonanz, die es in der Öffentlichkeit erhält. Der Spiegel im Schlafzimmer taugt daher bestenfalls für die Hauptprobe.  

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