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Die Entscheidung, nicht ängstlich zu sein (Nina Power)

Wir können uns entscheiden, nicht ängstlich zu sein. Und wir haben immer, in jeder Situation, die uns Zwängen unterwirft, die Möglichkeit, mindestens in Gedanken einen Schritt zurückzutreten und hinzuschauen oder hinzuhören.
Solche Aussagen sind absturzgefährdet. Sie können ins Esoterische abstürzen oder ins Triviale. Sie riskieren mit einer Naivität zu kokettieren, die nicht mehr leistet als eine Notschicht Make-up. Sie können wirken wie ein hilfloser Appell an die Wiederherstellung einer verlorenen Unschuld.

Das tun sie bei Nina Power nicht. Vielmehr loten sie die Grenze zwischen einem philosophischen Gedanken und seiner Bedeutung für das »echte« Leben aus, manchmal selbstironisch, manchmal mit komplexen Argumentationen, manchmal provokativ, manchmal charmant. Sie machen diese Grenze zum Ort oder besser zum Unort, an dem das Denken stattfindet. Denn was man sagt, ist abhängig vom Ort, an dem man es sagt. Auch dies nichts, was wir noch nie gehört haben. In der Auffassung von Nina Power hat das jedoch nichts mit Relativismus zu tun. Das ist einer der Gründe, warum mich ihre Position überzeugt. Es geht ihr gerade nicht darum, aus der Erkenntnis, dass Philosophie die »eine« Wahrheit nicht kennt, abzuleiten, dass es nur subjektiv-individualistische Konstruktionen gibt, die unter ihrer jeweiligen Glasglocke vor sich hin dümpeln oder sich - weniger entspannt - radikalisieren. Vielmehr hat Philosophie oder das Denken den Anspruch, die Vielfalt in sich zu fassen und auszuhalten, ohne verrückt zu werden, wie sie sagt.

Ein Gedanke entsteht im Dialog an einem bestimmten Ort. Er entsteht im Verhältnis zu einem Maximum von anderen möglichen Gedanken. Das erfordert Zeit. Denken hat daher auch etwas mit Verlangsamung zu tun. Auch das zu sagen ist riskant, wo viele von uns das ständige Gerede von Entschleunigung bereits langweilt: einer der vielen Trends, die kommen und gehen. Die Langsamkeit des Denkens betrifft aber nicht nur die Entschlackung des Kalenders, den Widerstand gegen die Dringlichkeit oder die bewussten Pausen. Denken schafft Ort und Zeit, wo eigentlich nichts ist, nur die Grenze zwischen Alltagsrationalität und Esoterik - und zwar deshalb, weil es immer schon diese potentielle Vielfalt ist, die immer und überall Bewegung und Bezugsräume kreiert.

Die Vielfalt auszuhalten bedeutet, sich nicht auf etwas Bestimmtes zu beschränken und zu verlassen. Die Philosophie gibt keine eindeutige Antwort. Denken bedeutet - auch das ein Zitat von Power - dem Nichts oder der Leere zuzuhören. Und obwohl sie zu Recht bemerkt, dass wirklich Zuhören sehr schwierig ist, sagt sie dennoch, dass dieses Zuhören uns allen offen steht.

Die Entscheidung, nicht ängstlich zu sein, kann also bedeuten, anstatt in angespannter Ungewissheit zu verharren, einem Gedanken in die ihm gegenübertretenden Gedanken zu folgen und jeden dieser Gedanken ernst zu nehmen. Das ist nicht trivial, weil es den meisten von uns nicht ohne weiteres gelingt, die Vielfalt ernst zu nehmen. Und es ist nicht esoterisch, weil diese Vielfalt auch Lautes, Schmutziges oder Vulgäres enthält.

 

 

Nachtrag: Ich bin auf einen unappetitlichen Auftritt Nina Powers und einen öffentlichen Kommentar dazu hingewiesen worden und denke, dass diese zwei Links hierhergehören, um meinen selektiven Blick auf ihren Vortrag zu kontrastieren.

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