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Schlechtgelaunte Fingerzeige - zu Bourdieus Bildungsverständnis

Bourdieu klingt immer ein bisschen so, als sei er mit dem falschen Fuß aus dem Bett gestiegen – auch in seinen Texten zur Bildung. Mir wäre lieber, er würde seine schlechte Laune etwas weniger konsequent zum Stilmittel machen, aber die Lektüre finde ich dennoch anregend.

Die Texte beschäftigen sich u. a. mit der Frage, warum das Bildungssystem noch immer nicht wirklich zur Chancengleichheit beiträgt. Sehr vereinfacht lautet sein Befund: Die weiterführenden Bildungsangebote setzen voraus, was sie zu vermitteln vorgeben, nämlich eine bestimmte Sprachkompetenz, ein bestimmtes Verhältnis zur Welt und dem, was in dieser Welt zum Lerninhalt wird, ein bestimmtes Ausmaß an »kultureller« Bildung, eine bestimmte Art von Lernstrategien. Wer dies nicht mitbringt, wird wohl wenig Erfolg haben.

Ich könnte das alles schnell wegwischen, da diese Untersuchungen sich vorwiegend auf das französische Hochschulsystem beziehen, zum Teil schon in den 70-ern geschrieben wurden und eine bestimmte Art von zentralistischem nationalem Selbstverständnis im Visier haben, das mit den Verhältnissen in der Schweiz und in Deutschland nicht vergleichbar ist. Und tatsächlich, die Unterschiede liegen auf der Hand: die Bedeutung beruflicher Bildung und Weiterbildung, der Föderalismus, (vielleicht) auch eine weniger pompöse und vor allem weniger elitäre Nationalkultur.

 

Dennoch: Was geht uns Bourdieus These an?

 

1. Bildungsangebote sind fast immer von typischen »Sprachspielen« geprägt, hervorgegangen aus beruflichen oder fachlichen Konventionen: Wie direkt äußert man z. B. eine kritische Beurteilung (»Könnten Sie dazu evtl. noch ein Beispiel machen?« oder »Das hat doch mit meiner Praxis nichts zu tun!«); wie lange Redebeiträge sind passend und wann bzw. wie oft werden Sie platziert. Wer die Sprachspiele nicht beherrscht oder anders spielt, fällt auf. Das kann eine Chance sein, ist aber wohl häufiger ein Risiko.

2. Bildungssituationen sind oft von unbewussten Kommunikations- Interaktions- und Beteiligungsnormen geprägt, die sehr unmittelbar dazu beitragen, Teilnehmende zu kategorisieren; in Gute und Schlechte, Aktive und Passive, Motivierte und Unmotivierte – eine solche Zuschreibung kann sich verselbständigen, das Verhalten beeinflussen und Auswirkungen auf den Erfolg haben.

3. Wie schnell ist es geschehen, dass Bildungsverantwortliche die Tauglichkeit von didaktischen Settings auf der Basis von Mehrheitsmeinungen beurteilen und also davon ausgehen, dass Nicht-Passung des Angebots mit einzelnen Teilnehmenden als das Problem der betreffenden Einzelnen verbucht werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bedürfnisse von Minderheiten Auswirkungen auf die Gestaltung des Angebots haben, ist entsprechend klein. Dafür gibt es zweifellos gute Gründe, aber es kann Inklusion und Diversität verhindern.

4. Reflexionskompetenz, Lernstrategien, Ambiguitätstoleranz u. ä. zu fördern, ist mit Umwegen verbunden, die als inneffizient wahrgenommen werden können. Die entsprechenden Kompetenzen werden also oft vorausgesetzt und Teilnehmende, die sie nicht angemessen zum Einsatz bringen können, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger Erfolg haben.

 

Und was folgt daraus?

1. Wir können Metakommunikation als notwendige Zutat in unsere Bildungskonzepte integrieren, anstatt davon auszugehen, dass Kommunikationsnormen die selbstverständliche Grundlage unserer Bildungsarbeit sind.

2. Wir können uns darauf achten, Verhaltensweisen nicht unbedacht zu interpretieren und vermehrt davon ausgehen, dass unser Gegenüber in der Regel anders ist, als wir denken.

3. Wir können die von der Mehrheitsmeinung abweichenden Rückmeldungen zu dem, was wir tun, öfter als eine Gelegenheit zur Weiterentwicklung unserer Bildungsangebote verstehen.

4. Wir können die Reflexion über Instrumente und Vorgehensweisen als Gegenstand von Bildungsveranstaltungen begreifen und entsprechend in unsere didaktischen Konzepte integrieren, damit sie nicht nur dem Zufall überlassen bleibt.

 

Das ist keine Revolution, aber ein Beitrag zu einem Bildungsverständnis, das Empowerment groß schreibt und auch unter herausfordernden Bedingungen Diversität bejaht.

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